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Rudolf Bönsch: „Das Thema Pflege ist für die Jungen so weit weg wie die Milchstraße“

Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland wächst beständig. Trotzdem denken große Teile der Bevölkerung nicht daran. Wir sprechen mit Pflegewissenschaftler Rudolf Bönsch über das Thema.

Bedarf an Pflege nimmt zu

Dem Statistischen Bundesamt (Destatis) zufolge sind rund 4,1 Millionen Deutsche pflegebedürftig. Fast die Hälfte von ihnen (49,4 Prozent) befindet sich in der Kategorisierung Pflegegrad 2. 80,2 Prozent leben noch zu Hause, wo sich Angehörige, Freunde oder ein ambulanter Pflegedienst um sie kümmern. Wie die Wiesbadener Behörde mitteilt, wächst die Zahl der Pflegebedürftigen seit Jahren an. Das Thema Pflege nimmt an Bedeutung zu – vorrangig wegen der steigenden Lebenserwartung. Die jüngeren Zielgruppen kümmern sich zu wenig um die Pflege, geschweige denn um die rechtzeitige Absicherung derselben. Warum das so ist und wie Vermittler diese Kunden erreichen können, weiß der Pflegewissenschaftler Rudolf Bönsch.

Redaktion: Herr Bönsch, wann beginnt die jüngere Generation, sich mit dem Thema Pflege zu befassen?

Rudolf Bönsch: Das kommt drauf an, mit wem man spricht. „Jüngere Generation“ fängt für viele schon bei unter 65 an. Ein Blick auf die Zahlen, wer denn eine Pflegeversicherung kauft, zeigt, dass das Thema meistens erst mit Mitte 50 interessant wird. Erst dann steigt die Nachfrage. Alles, was darunter ist, ist aktuell außerordentlich schwer zu aktivieren.

Redaktion: Demnach sind Generation Z und die Millennials so gut wie gar nicht vertreten. Welche Gründe gibt es dafür?

Rudolf Bönsch: Egal, welche Zielgruppe man sich anschaut, es gibt drei Kernthemen, die die Pflege prägen. Erstens: Pflege ist generell als ein Thema des Alters in den Köpfen abgespeichert. Jemand, der gerade auf die 40 zugeht, vielleicht noch 20 Jahre oder mehr bis zur Rente hat, der sagt sich: Damit habe ich nichts zu tun. Sich mit Pflege zu befassen, bedeutet: Man ist alt. Das zweite Thema sind die Statistiken. Da kommen die Statistiker an und sagen dir, dass es ja nur zwei bis vier Prozent, die jünger sind als 60 und trotzdem pflegebedürftig werden. Und drittens gibt es dann diejenigen, die sich zwar mit dem Thema Absicherung auseinandersetzen, aber sich auf andere Produkte, etwa die Berufsunfähigkeitsversicherung, konzentrieren.

Redaktion: Und diesen offensichtlich schon länger geprägten Eindruck von der Pflege kann man nicht einfach so aufbrechen.

Rudolf Bönsch: Das stelle ich mir schwierig vor. So ein bisschen ist aber auch die Branche daran schuld. Nehmen wir den Pflegegrad 5 als Beispiel. Der ist allgemein der Kern der gängigen Botschaft: Der Pflegegrad 5 ruiniert dich, wir reden übers Heim, es wird furchtbar teuer. Bei dieser Situationsbeschreibung fangen die Kunden eher an, über assistierten Suizid in der Schweiz zu reden, aber nicht darüber, wie man möglichst viel Unterstützung von der Versicherung bekommen kann, um den unerwünschten Zustand möglichst lange noch aufrechtzuerhalten. Pflege für sich als präsentes Thema anzusehen, kommt den jungen Menschen gar nicht in den Sinn. Nicht automatisch, jedenfalls. Für sie ist die Pflegebedürftigkeit so weit weg wie die Milchstraße.

Redaktion: Wie schätzen Sie denn das Risiko für die „jüngeren“ Generationen ein?

Rudolf Bönsch: Auch hier lohnt sich ein Blick auf die Zahlen. Nehmen wir mal die Zielgruppe der 20-45-Jährigen und zerlegen sie in Fünferblöcke. Also 20 bis 25, 25 bis 30 und so weiter. Jede dieser kleinen Gruppen hat im Schnitt 35.000 Pflegebedürftige, über alle Pflegegrade hinweg. Und wiederum ein Viertel davon ist den Pflegegraden 4 und 5 zugeordnet. Und jetzt schauen wir uns die Zielgruppe Ü65 an. Also genau die, von der alle glauben, so, da findet dieses ganze Pflegethema statt. Da sind knapp über zehn Prozent in den Pflegegraden 4 und 5.

Redaktion: Das heißt übersetzt: Wenn es die Jüngeren trifft, trifft es sie schwer?

Rudolf Bönsch: Genau. Das ist aber noch nicht alles. Wenn Sie als junger Mensch pflegebedürftig werden, haben Sie ein fünf- bis achtmal höheres Risiko, ein Sozialhilfefall zu werden, als es bei den über 65-Jährigen der Fall ist.

Redaktion: Was ist aus Ihrer Sicht ein passendes Alter, um bei der Pflegeversicherung einzusteigen?

Rudolf Bönsch: Damit kann man gar nicht früh genug anfangen. Für Familien sollte das schon anfangen, wenn sie in die Familienplanung gehen (Stichwort: Kindernachversicherung). Wir haben immer noch eine hohe Quote (zwei bis drei Prozent) an Kindern, die mit körperlichen oder gesundheitlichen Einschränkungen auf die Welt kommen. Wenn Eltern mit diesem Problem konfrontiert werden, dann wird schnell klar, dass es sich um lebenslange Einschränkungen und Kümmern handelt. Ein schwieriges und hochgradig emotionales Thema.

Redaktion: Wie können Vermittler denn auf junge Kunden zugehen, auch mit all diesen Hürden?

Rudolf Bönsch: Wichtig ist zunächst einmal, dass der Vermittler das Thema selbst anschneidet, weil es sich nicht um ein Nachfrageprodukt handelt. Er muss im Gespräch die Fakten auf den Tisch legen und sie gut rüberbringen. Wenn es den Kunden erwischt, ist es ihm egal, ob er einer aus vier, aus zehn oder aus hundert ist. Er muss sich die Frage stellen: Was bedeutet das für meine persönliche Lebenssituation? Der Vermittler kommt um etwas „Sargdeckelklappern“ nicht herum, darf aber auch nicht in Angstmache abrutschen. Die Argumentation kann der bei einer Unfallversicherung gleichen. Das passt auch deswegen, weil es sich meist um Unfälle handelt, die letztendlich für eine Pflegebedürftigkeit von jüngeren Menschen verantwortlich ist.

Redaktion: Zum Abschluss: Welche Praxistipps haben Sie für die Beratung?

Rudolf Bönsch: Es handelt sich hierbei um ein sensibles und sehr emotionales Thema. Der Vermittler muss sich vorsichtig herantasten, wie das Thema denn beim Kunden ankommt. Am wichtigsten ist es, mal das Umfeld des Kunden abzufragen, ob Pflegebedürftigkeit irgendwo schon relevant war. Ich bin sicher, dass fast jeder jemanden kennt oder davon gehört hat, der pflegebedürftig ist. Es sind wenige, aber sie gibt es. Die Frage ist nun: Wie geht man damit um? Die Kunden wissen ja meistens um die Risiken, verdrängen sie allerdings. Da gilt es dann festzustellen: Hat der Kunde eine Meinung zur Pflege und wie lautet diese? Auch wichtig ist, dass Pflege meistens ein „Mitnahmeprodukt“ ist. Das heißt, es steht zwar nicht im Fokus der Risikoberatung, aber wenn man über Berufsunfähigkeit oder Unfallrisiken spricht, kann man das Thema gut einbauen. Und dann gilt es auch auf die eigene Wortwahl zu achten. Es ist eine Sache, wenn man sagt: „Nur“ zehn Prozent aller Berufsunfähigkeitsfälle sind auch Pflegefälle oder „immerhin“ zehn Prozent. Wir reden von lebenslangen Einschränkungen aufgrund von Pflegebedürftigkeit.

Titelbild: © DisobeyArt / stock.adobe.de

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